Photographie als Wahrheitsserum

Wanderer, kommst Du in diesen Wochen nach München und gehst nicht in die Michael Schmidt-Retrospektive ins Haus der Kunst, dann – ja dann schlaf weiter!

Wenn man durch diese Ausstellung geht und die (mit wenigen Ausnahmen) ganz tradtionell-analogen Photographien betrachtet, wird einem nach und nach (und durchaus mit einer gewissen, zunehmenden Beklemmung) klar, in einer wie visuell und ikonisch verseuchten Welt wir mittlerweile leben (müssen). Spätestens zwischen diesen ausschließlich schwarzweiß gehaltenen Porträts von Menschen, Städten, Gebäuden, Geländen wird deutlich, dass es sich beim Begriff „Bilderflut“ angesichts der Myriaden von bunten, glatten, gephotoshopten Fotos, mit denen wir jeden Tag zugesch(m)issen werden, um einen argen Euphemismus handelt: It‘s a shitstorm, stupid! (Und natürlich bezieht die Arbeit von Schmidt aus diesem heftigen Kontrast auch einen Teil ihrer Kraft – aber das ist ja der Witz an der Kunst, die Sichtbarmachung der Unterschiede, die wirklich einen Unterschied machen).

Ganz nebenbei erzählt die Zusammenstellung der Schmidtschen Potographien aus vier Jahrzehnten auch auf subtile und gleichzeitig aufregend rücksichtslose Art die Nachkriegsgeschichte (der beiden) Deutschlands nach, und wer noch nicht ganz blind geworden ist von all den Bildern, mit denen uns die Medien unsere Geschichte vorkauen und nachzehren, dem wird hier plötzlich schlagartig (oder wahlweise: wieder einmal) klar, dass es mitnichten nur unsere Brüdern und Schwestern im Osten sind, die man in den vergangenen Dekaden kräftig verarscht hat: Und das ist das eigentlich irre an den Bildern, dass man buchstäblich sehen kann, wie man mit unterschiedlichen Methoden zum gleichen Ergebnis gelangen kann: Den Menschen die Seele zu quetschen, die Lebensfreude, den Sinn für Schönheit auszutreiben (und auch hier sind die Ausnahmen wieder sehenswert: die Porträts der Trotzigen).

Was man auch sehen und geradezu be-greifen kann in dieser Werkschau ist, dass die künstlerische Darstellung (im Sinne von: Kenntlich-Machung) der Realität mit den Mitteln der Photographie nichts mit „realistischer“ Abbildung zu tun hat, sondern alles mit Gestaltung, Begrenzung, Weglassen, Konzentration, Modellierung (anstelle von: Glättung) – also mit Kunst. Man kann hier durchaus (und wieder mit einem gewissen Erschrecken) lernen, wie sehr man es uns abtrainiert hat, hinzuschauen und zu sehen, was da ist (und dahinter steckt). Im gewissen Sinne arbeitet die Bildindustrie seit Jahrzehnten an unserer Ver-Blödung im alten Sinne des Wortes: Wir sollen blind werden für das, was hinter den Bildern steckt und blind für das Programm, das in ihnen steckt. Michael Schmidts Photos sind da ein wirksames Gegengift.

Also lieber Wanderer: Lass Dich um Himmels willen nicht von dem Ausstellungstitel „Grau als Farbe“ abschrecken (Wo lernt man eigentlich, solche Titel zu generieren: im Kunstgeschichtestudium?). Eine Photozyklus von Schmidt aus den Jahren kurz vor dem Mauerfall heißt übrigens „Waffenruhe“: Wenn man seine Retrospektive in diesen Tagen so anschaut, spürt man: Waffenruhe wird, wenn wir hier so weitermachen, nicht mehr lange herrschen.

hs

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