Vier Stunden.

Ein Freund (oder zumindest jemand, den ich dafür halte), flüsterte mir heute, ich möge doch wieder etwas schreiben. Das Problem dabei, erwiderte ich, sei, dass die diversen erhobenen Finger kaum zu umgehen seien und ich deshalb zwar schreibe aber nicht publiziere. Der Zeigefinger als aufdringlicher Patron, der Mittelfinger als billiger Effekt und der Rest ist „Wacken!“.
Nun ist es derzeit auch noch so, dass sich eine Stellungnahme zu aktuellen Ereignissen kaum mehr umfassend, geschweige denn differenzierend bewerkstelligen lässt. Wenn man zum Beispiel einen Zirkel nähme; und diesen auf einen Radius von, sagen wir mal, 4 Flugstunden einstellte, umfasste der Kreis – vom internationalen Flughafen FFM ausgehend – Brennpunkte und Konflikte auf der Welt, die nur noch durch ihre Dringlichkeitsstufen in den öffentlich-rechtlichen Medien voneinander zu unterscheiden sind. Eines haben sie alle gemein: Tod und Verderben von Unschuldigen.
Die Ost-Ukraine, der Gaza-Konflikt und der Nord-Irak sind ja noch recht leicht als Kämpfe um Einflusssphären, Öl, Absatzmärkte für Waffen, Maschinen und Religion (in dieser Reihenfolge) zu identifizieren; aber der Süd-Sudan, die Flüchtlinge in Äthiopien, aus dem Sahel und über das Mittelmeer, oder Syrien, wo nach wie vor ein erbitterter Krieg tobt, den keiner beenden will, weil dann rauskäme, das sie alle Dreck am Stecken haben, sind schon schwieriger zu beurteilen. Geschweige denn die Ebola-Pandemie, die sich zwar abzeichnet, aber wegen des unseligen Dreiklanges aus Macht, Korruption und sozialer Ungleichheit weiter ihren Weg finden wird, wie alles, was die Natur erfindet um die Lücken schwacher Evolution zu füllen. 4 Flugstunden. Das bedeutet, man könnte innert eines Tages in Dantes Inferno fliegen und zurück – möglicherweise mit dem Erreger desselben im Gepäck. Kürzer, als von Hamburg nach Spaichingen. Und nach dem, was ich bisher über Globalisierung gelernt habe, kann es gar nicht lange dauern, bis alle Reperkussionen über diverse Umwege – zumindest Ökonomisch – auf uns zurück fallen. Was dann wieder Anlass zu allerlei Kündigungen sein wird. Als Hoimar v. Dittfurth 1986 auf dem Jugendforum sagte „Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass Ihr Euch auf Euerer Sattheitsinsel abschotten könnt!“, da hielten ihn selbst die progressiven Schülerzeitungsredakteure für einen Schwarzmaler. Sie sind jetzt in den Chefredaktionen angekommen und verwalten das Elend einer Flut von grauenvollen Nachrichten, die nur einen Vorteil haben, nämlich das sie sich gegenseitig neutralisieren bzw. verdrängen.
Ihr seht: die Themen sind erdrückend und kaum zu bewältigen, trotz der unfassbaren Möglichkeiten zur Information und Differenzierung, die sich uns heute bieten (oder gerade deshalb). Ich plädiere also nachdrücklich dafür, die vollständige Trennung der unglückseligen Paarungen Staat/Religion, Soziale Ungleichheit/Ressentiment und Geld/Moral zumindest gedanklich zu vollziehen – bei jeder denkbaren Entscheidung. Das wird wenige von uns direkt tangieren, hilft aber gegen die stumpfe Apathie mit der wir die Nachrichten aus unseren Außenbezirken aufnehmen. Glücklicher macht es nicht, aber schlauer und aufmerksamer. Und als Ansatz eine Hilfe gegen schleichende Misanthropie.
Oder wie Karl Kraus sagt: „Der Teufel ist ein Optimist, er meint, er könne die Menschen schlechter machen“. (Die letzten Tage der Menschheit)

2 Gedanken zu „Vier Stunden.

  1. Beginnt man zum einen, etwas lokalpatriotischer zu denken, setzt man den Zirkel wie selbstverständlich in Hamburg an.
    Zum anderen bezieht der moderne Homo sapiens in derartige Überlegungen noch die Faktoren Umwelt, Energie und Nachhaltigkeit mit ein und nimmt somit statt des Flugzeugs die Bahn.
    Ergo ergibt jener Kreis – vorkommende Verspätungen der Bahn natürlich berücksichtigend – ein Gebiet zwischen Kiel, Lüneburg, Undeloh und irgendeinem Gewerbegebiet bei Bremen.
    Und wie von alleine ist die Welt wieder in Ordnung.

  2. Lokalpatriotismus bedeutet hoffentlich nicht, RegionalExpress zu fahren und begrenzte Horizonte im Lande derselben (klaar kimming) – obwohl der HSV diese Überlegung mittelfristig nahe legt. Und obwohl Rostock, Kiel, Cottbus, Dresden und, äh, … Bremen dann im Radius wären, sind andere Krisenherde noch vor Saisonende präsent. Ob Brokdorf oder Beiersdorfer; Elb-Vertiefung oder -(dis)harmonie; Harburg oder Hafencity: Laut Einstein ist Wahnsinn, immer das Gleiche zu tun und dabei unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten.

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