Schaue mir gerade sanft seufzend die lange verpasste Woodstock-Doku an, frage mich, warum sie eigentlich nach 1:00 Uhr läuft und rechne nach: 46 Jahre ist das her – fast ein halbes Jahrhundert. Auch (oder gerade) nach so langer Zeit ist es kaum zu glauben, was da passiert ist, und noch schwerer nachzuvollziehen, wie 400.000 Kids eine humanistische „homebase“ der menschlichen Kulturgeschichte schaffen konnten – mit nichts als Musik, dem Essen der umliegenden Farmer und ein paar Drogen. Ohne aufeinander loszugehen und selbst im Delirium friedlich und sich gegenseitig zugewandt.
Es mag an der fortgeschrittenen Stunde (oder dem neuen Jahrhundert) liegen, dass meine Bewunderung ihren Weg hierin findet, aber als verknöcherter Kulturpessimist ist es mir ein Labsaal, gleichzeitig nachzuerleben, dass wir als westliche Zivilisation schon einmal weiter waren (im Angesicht eines Krieges, wohlgemerkt) und die Hoffnung zu hegen, es läge selbst in der globalisierten ökonomischen Diktatur unserer Tage noch ein Samen dieser blauäugigen, als revolutionär empfundenen Gemeinschaftserlebnisse, die dann unsere Wahrnehmung einer „Zeit“ prägen.
Anders gesagt: wer „I’m going home“ von Ten Years After live gehört hat, war zwar streng genommen in einer „disaster area“ größeren Ausmaßes als es der Münchner Hauptbahnhof je sein wird – minus Essen und Trinkwasser, nicht gereicht von keinen Bürgern, die am Montag nicht wieder ins Büro … oder auf’s Arbeitsamt müssen. Jedoch in einer spirituell sicher besser gepolsterten Transitstrecke, als die zwischen Syrien, Mazedonien und dem Schengen-Konglomerat. Ich glaube nicht, dass da viele ihren Pass dabei hatten.
Dennoch gibt es Anlass zur Freude über die „Willkommenskultur“ unserer Kompatrioten – sofern sie es nicht mit sechsstelligen Zahlen zu tun bekommen; mittelbar nicht mehr, als in die Allianz-Arena reinpassen. Ich sage voraus: dann wird Schluss sein mit freundlich. Also bei etwa einem Fünftel der Woodstock-Besucher. Irgendwer wird die andere halbe Million auf wirtschaftlichen Druck hin schon nehmen. Die restlichen Hundertstel gehen nach England; am besten in die City als Schuhputzer.
Trotzdem: seeds of hope, peace and love. Fun and music, god bless you.
„Der Pessimismus, (…) so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: Er ist deren Ausdruck.“ (F. Nietzsche)